Schon lange hatte ich mich nach der alten Heimat gesehnt, nach den schönen Bergen des Harzes und selbst nach der vertrauten Muttersprache, die so ganz anders klingt als der Laut der Altmark. Die alten Sitten heimeln wieder an, so der Gang zur Christmette am frühen Morgen, hinterher die Bescherung um 1/2 7 Uhr.
Nun konnten die Geschenke stürmisch in Besitz genommen werden: Dampfmaschine, Druckerei, Laubsägen, Pferdestall, Kugelgelenkschlafpuppe.
Ein Schwein war angeschafft worden. Da kam die Verfügung, alle Schweine müßten bis Ende des Jahres 1917 geschlachtet sein, damit kein Futter mehr gebraucht würde. Es musste aber ein Erlaubnisschein mit "Anfangsgewicht beim Einkauf" eingereicht werden. Ich war so ehrlich und gab mehr als 60 Pfund an. Da wurde das Schlachten verboten. Ich reiste aufs Landratsamt nach Sangerhausen und erhielt dort die Weisung, vom Schulzen ein geringeres Gewicht bescheinigen zu lassen. Was dann auch geschah.
Das Jahr 1920 hat ein Ereignis mit sich gebracht, das beinahe den Tod des Hausherrn zur Folge gehabt hatte. Ich war beim Pflaumenpflücken gestürzt und hatte mir dabei eine Gehirnerschütterung zugezogen. Ich muß aus eigener Kraft noch in das Haus zum Sofa gewankt sein, doch im Bewußtsein ist mir dieses nicht geblieben. Mein Geist muß vorübergehend vom Körper losgelöst gewesen sein; denn unter den an mein Sofa herangetretenen Menschen sah ich eine mir wohlbekannte Witwe, der ich mit Bestimmtheit erklären konnte, daß ich soeben mit ihrem Manne zusammen gewesen bin.
Rasende Kopfschmerzen folgten, bis ich nach sechs Tagen wieder aufstehen und für die wunderbare Gotteshilfe und für die Liebeserweisungen aus der Gemeinde danken konnte. Nun aber brach die Gattin in Folge der treuen aufopfernden Pflege zusammen, so daß wir beide sehr malade meist zu Bette lagen.
14 tagelang kam täglich vom Rittergut ein Eimer Essen, und die Krankenschwester besorgte jeden früh das Notwendigste in der Wirtschaft.
Doch auch diese schwere Zeit ging dahin, und lassen wir wieder Humor aus Kindermunde zu Worte kommen.
Susi meint, wir wären 26 Personen im Hause: Hund, Katze, Hühner, Kaninchen und wir.
Sie soll einen Satz mit dem Verb "jäten" bilden. Ich erkläre ihr, jäten heißt soviel wie ausrupfen. Sie bildet den Satz: "Wir jäten den Fogel."
Der verlorene Krieg hatte viele bittere Folgen, und die alte heidnische Frage "Was sollen wir essen, womit sollen wir uns kleiden ?" wollte ihr Regiment in den Familien nicht aufgeben. Bald fehlten Kartoffeln, bald fehlte das Fleisch, und es kam vor, daß kein Brot mehr aufzutreiben war. Zerrissene Kleidungsstücke mußten immer wieder geflickt werden. Auf das Frühstückbrot der Kinder strich Änni geriebene Kartoffeln mit einem Tropfen Öl, und zuweilen wurde Pferdefleisch gekauft. Zur Kaffeezeit wurde manchmal eine Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch gesetzt. Der Rittergutsbesitzer hatte ein Einsehen und lieferte nach einem Bittgang meinerseits ein Schwein gratis. Doch die Bauern waren meist abweisend und hartherzig. Ein Wunder, daß unsere Kinder trotzdem gesund und stark heranwuchsen.
Mit einem Rucksacke holte der Hausvater sein Gehalt in Milliardenhöhe von der Kasse, und wenn er im Dorfe anlangte, war das Inflationsgeld bereits entwertet. Endlich im Herbst 1923 wurde die Rentenmark geschaffen, und stabile Geldverhältnisse kehrten ein.
Mit dem Sturz des Thrones fiel zwangsläufig auch die Autorität der Kirche und der Pfarrer. Die Kirchen wurden leerer und leerer und die Zuchtlosigkeit auf der Straße breiter und offener.
Viel Kraft, Geduld und tiefe Festigkeit waren notwendig, um die Amtsfreudigkeit immer neu zu gewinnen. Langsam besserten sich die Zustände: Neue Glocken konnten angeschafft werden, der Kirchenraum wurde restauriert, und eine Gedenkhalle für die Gefallenen wurde eingerichtet. Der Kirchenbesuch hob sich, die Kinder wuchsen heran und wurden konfirmiert.
Am 25. März 1923 konnten Hans und Martin zum Konfirmationsaltar geführt werden, gerade in der bösen Inflationszeit, wo das Geschenk eines Sparbuches in Höhe von 10 000 Mark gänzlich wertlos wurde.
Lotte hatte sich schon eine bessere Zeit ausgesucht. Am 5. April 1925 wurde sie eingesegnet und Friedel am 28. März 1926.
Der Anteil der Gemeinde war stets groß, die Fenster füllten sich jedesmal mit hübschen Blumen.
Oft wurden Einzelaufnahmen und Familienbilder angefertigt, zum Teil auf der alten Veranda, die der Großvater Schreiner einst "Wo-dran-da" nannte. Sie hat - entstanden im Jahre 1907 aus einem dicken Spielberger Stamme, der auf dem Pfarrhofe zersägt wurde – den Weg von Spielberg über Elversdorf nach Sundhausen ohne großen Schaden zurückgelegt. Von der Veranda aus zieht sich ein Laubengang aus Obstspalier bis zur sogenannten "Burg" einer Erhöhung aus Aschen (?) und Steinen, seitlich mit Blumen bewachsen, mit Aussicht auf das Nachbardorf. Fotobilder zeigen: Im Blütengange haben sich die Pfarrerseheleute und auf dem Tisch der "Burg" die beiden Burgfräuleins Lotte und Susanne abnehmen lassen.
Ein anderes Bild zeigt Pastors im Grase sitzend neben Wilhelm Forkel, der monatelang, zeitweise mit Kindern unser lieber Gast war.
Weitere Aufnahmen zeigen die Frontseite des Sundhäuser Pfarrhauses, den Hoftoreingang mit dem Nachbarbackhause, den wachsamen Lux, der erwartungsvoll auf der Treppenstufe harrt. Hans hatte ihn - fast noch im Säuglingsalter - vom Nachbardorf Uthleben geholt. Sechs Jahre lang hat er alle Leute, die da ein- und ausgingen mitunter gewaltig angeschnauzt. 1927 wurde er vom Auto überfahren und so schwer verletzt, dass er erschossen werden musste. Sein Freund „Seppel“, dem Susanne laut Bilddokument das Lesen beizubringen versucht, ist jetzt alleiniger Wächter der Pfarre und der Liebling der Bewohner.
An der Helme, die durch die Goldene Aue der Unstrut entgegenfließt, ging der Pfarrer oft spazieren. Von ferne grüßt der Turm der Gemeinde, und seitwärts winken die Berge des Harzes. Da kommt es ihm manchmal in den Sinn, daß er nun schon an die 10 Jahre im Sundhäuser Pfarrhaus wohnt und das Wort fällt ihm ein: "Unser Leben fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“
Da stehst Du, liebliches Pfarrhaus. Heraus schaut wohlgefällig der Hausherr und "drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder." Wieviel Freude, aber auch wieviel Leid haben Deine Mauern gesehen !
An Arbeit hat es nicht gefehlt, in und außer dem Hause. In dem Raume dicht am Wohnhaus ist aus einem Stall ein Vereins- und Jugendheim geworden.
Noch einige Bildbeschreibungen: Schräg gegenüber vom Jugendheim steht das Waschhaus, vor ihm der Hausherr, der seine Hühner füttert. Das andere Vieh hat er der jüngeren Generation überlassen.
Aber Hühnerbetreuung und Gartenarbeit lässt er sich nicht nehmen, das bedeutet körperliche Bewegung und ist Ersatz für Wanderungen.
Nur sonntags dann und wann, wenn Hans einmal aus Wachstedt kommt, wird ein Spaziergang entlang der Helme unternommen. Auf schwankender Bohle geht es von einem Ufer auf das andere.
In der Ferne schimmern die blauen Harzberge, und der Kyffhäuser schließt im Osten das liebliche Bild der Aue ab.
Freud und Leid begegnen uns im steten Wechsel. Ein Familienfreudentag war die Feier unserer silbernen Hochzeit am 8. Oktober 1931.
Das Jubelpaar lag noch im Bette, als vor der Kammertür der Gesang der Kinder "Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren" ertönte. Ja, das war der Hauptton der ganzen Feier! Der Dank für alle Güte und Hilfe in den 25 Jahren der Ehe, deren Beginn 1906 in Bad Kösen im "Mutigen Ritter" so festlich gefeiert worden war.
Der Morgen des silbernen Hochzeitstages war ausgefüllt mit den Empfängen der Gratulanten, dem Verlesen der schriftlichen Glückwünsche - ausgefüllt mit den prächtigen Farben und den herrlichen Düften des Blumenschmuckes. Abgesandte von Korporationen erschienen, Vertreter des Kirchenrates, die ein Kaffeeservice, eine Teekanne und sechs silberne Teelöffel überreichten, Mitglieder des Frauenvereines, die als Jubiläumsgabe eine silberne Schale darreichen. Das Frauenkränzchen schenkte ein Dutzend Gläser. Aus der Gemeinde kamen Gaben, und der Kriegerverein ließ durch eine Abordnung gratulieren.
Der Hausvater mußte gegen 14 Uhr sein Fahrrad besteigen, um zu einer Beerdigung nach Hain zu fahren.
Unterdessen war ein großer Verwandtenkreis erschienen:
Schreiners aus Riestedt, Heinrich Schreiner mit Sohn aus Grone, Beckers aus Jävenitz, die beiden Schwestern des Hausvaters, Mariechen und Johanna, aus Nordhausen, Berendes (Siegfried, Eva und Tochter) aus Voigtstedt, Tante Anna aus Heringen mit Fritz und Ursel, Vater Zehner aus Suhl und Lottes Schwiegervater Ferdinand Brügge aus Nordhausen; und natürlich waren auch alle Kinder des Silberpaares zur Stelle.
Nach meiner Rückkehr von Hain kurz nach 3 Uhr begann das gemeinsame Essen in dem kurz zuvor erweiterten Jugendheim. Bald stellte sich die Unterhaltung dazu ein:
Die fünf Kinder und die Schwiegerkinder brachten unter Versen eine Bowle - geschmackvolles Gefäß mit passenden Gläsern - , dann ließen Schwager Karl Schreiner und Siegfried Berendes das Jubelpaar hochleben, und Filius Martin hielt eine nette Ansprache mit guten Wünschen für seine Eltern. Plötzlich erschallten im Hausflure Lieder des Kirchenchores, der mit diesem Ständchen gratulierte. Dann erbaute die Gästeschar ein Instrumentalquartett: Filius Siegfried und drei Sundhäuser musizierten zur Feier des silbernen Jubiläums.
Nach dem Essen kam die Fidelitas zu ihrem Rechte: Es wurde im Jugendheim getanzt. Alles zusammen war eine wunderschöne Feier, die doch einmal die trübe Zeit ganz vergessen ließ.
Etwas ganz Modernes war zur Feier des Tages angeschafft worden: ein Radio, es ließ während der Tafel seine Klänge ertönen.